© Tages-Anzeiger 11. April 2012
Schweizer Ökonomen fühlen in einer Serie für Tagesanzeiger.ch/Newsnet den Wirtschaftswissenschaften auf den Zahn. Den Auftakt macht der Volkswirtschaftler Mathias Binswanger.
Die traditionelle Ökonomie sah sich in letzter Zeit vor allem in Zusammenhang mit der letzten Finanzkrise diversen Angriffen ausgesetzt. Den Mainstream-Ökonomen wurde vorgeworfen, sie würden die heutige Realität der Finanzmärkte in ihren Modellen ignorieren und von realitätsfremden Annahmen ausgehen. Als Ökonom kann ich dieser Kritik nur zustimmen und dem vom Saulus zum Paulus gewordenen Vertreter meines Faches, Thomas Straubhaar, zur «Geisselung seiner Zunft» gratulieren.
Über Jahrzehnte hat sich die ökonomische Wissenschaft immer mehr von der Realität verabschiedet und sich stattdessen mit hypothetischen Gleichgewichtsmodellwelten beschäftigt. Wer am besten mit diesen herumspielen kann, der gilt heute als «grosser Ökonom» und darf in den angesehensten Fachzeitschriften publizieren. Diese Modellwelten werden dann mit mathematisch beeindruckenden Gleichungen beschrieben, aus deren Ergebnissen wiederum wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen für die real existierende Wirtschaft gezogen werden. Was dabei herauskommt, ist klar: Unsinn! Aber immerhin Unsinn, für den man Nobelpreise bekommt.
Nutzlose Forschung wird belohnt
Einige der in den letzten Jahren verliehenen Nobelpreise mögen dies illustrieren. So «entdeckte» etwa Robert Lucas (Nobelpreisträger im Jahr 1995) dank seiner Modelle, dass Rezessionen das Resultat falscher Erwartungen sind und sich auch für rationale Teilnehmer des Marktgeschehens nicht vermeiden lassen. Unternehmen und Haushalte verwechseln öfters nominale Preisänderungen mit realen Preisänderungen. Wird die Inflation unterschätzt, dann wird zu viel produziert und gearbeitet (Boom) und umgekehrt führt eine Unterschätzung in die Rezession.
Mit anderen Worten: Konjunkturschwankungen werden laut Lucas nur durch Verwechslungen von realen mit nominalen Grössen ausgelöst. Unternehmen werden von Zeit zu Zeit von der Zentralbank durch eine expansive Geldpolitik an der Nase herumgeführt und glauben, dass ihre Produkte jetzt mehr nachgefragt werden. Also beginnen sie, mehr zu produzieren, und die Wirtschaft boomt. Allerdings nur so lange, bis sie die Täuschung bemerkt haben, was dann wieder eine Rezession verursacht.
Edward Prescott (erhielt den Nobelpreis im Jahr 2004) hatte hingegen eine noch «bessere» Erklärung auf Lager. Aufgrund eines andern Modells gelang es ihm, zu zeigen, dass Wirtschaftskrisen gar nichts mit der schwankenden Nachfrage von Unternehmen und Haushalten zu tun haben. Sie werden stattdessen durch Produktivitätsschwankungen ausgelöst, die dann dazu führen, dass Angestellte in Jahren mit viel technischem Fortschritt viel arbeiten (Boom) und dafür in Jahren mit wenig Fortschritt ihre Arbeit reduzieren und die Freizeit geniessen (Rezession).
Mit anderen Worten: Arbeitslosigkeit wird laut Prescott durch die Arbeiter selbst verursacht. Diese arbeiten nur dann viel, wenn eine Zunahme der Produktivität hohe Löhne verspricht, was dann einen Boom auslöst. Bleiben Produktivitätserhöhungen hingegen aus, dann werden sie lieber zu Arbeitslosengeld- und Sozialhilfeempfängern, statt weiterzuarbeiten. Und schon haben wir eine Rezession.
Der im letzten Jahr an Thomas Sargent verliehene Nobelpreis passt bestens in diese Tradition «exzellenter» Erklärungen. Die schon von Lucas verbreitete «Erkenntnis», dass sämtliche realen Auswirkungen der Geldpolitik nur auf Täuschungen der wirtschaftlichen Akteure zurückzuführen sind, wurde von ihm noch auf die Spitze getrieben. Gemäss Sargent sehen die Wirtschaftsakteure die durch eine Geldmengenerhöhung morgen ausgelöste Inflation bereits heute voraus und verlangen deshalb auch bereits heute höhere Preise, was jeden stimulierenden Effekt auf die reale Wirtschaft verunmöglicht. Nur wenn es die Zentralbank fertigbringt, die Wirtschaftsakteure systematisch zu täuschen, kann sie die Wirtschaft kurzfristig beeinflussen. Da ihr das aber nicht gelingen wird, kann Geldpolitik praktisch nie eine Auswirkung auf die reale Wirtschaft haben. Die ganze Geldpolitik ist damit reine Illusion.
Geeignete Methoden machen alles beweisbar
Kein Wunder, dass weder Robert Lucas, noch Edward Prescott oder Thomas Sargent irgendetwas zur Erklärung der letzten Krise beitragen konnten. Eine der heilsamsten Auswirkungen der gegenwärtigen Finanzkrisen liegt darin, dass sie den erbärmlichen Zustand der Mainstream-Ökonomie für ein breiteres Publikum entlarvt hat. Dies hat schon vor einiger Zeit ein anderer Nobelpreisträger, nämlich Paul Krugman, in einem im «New York Time Magazin» veröffentlichten und viel diskutierten Artikel mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. Viele der heute in Topzeitschriften publizierten Artikel zeichnen sich dadurch aus, dass auch das Gegenteil der dort präsentierten Resultate «bewiesen» werden könnte, ohne dass dies irgendeinen Unterschied machen würde. Die Artikel sind nämlich so oder so irrelevant.
Auch die verstärkte Forderung nach mehr empirischer Forschung hilft da kaum weiter. Man kann auch vollkommen unsinnige Modelle nachträglich mit Daten in Verbindung bringen. Durch «geeignete» Auswahl der Daten und des Zeitraums, durch «geeignete» Manipulation der Daten, durch die Auswahl «geeigneter» statistischer Verfahren und durch die Nichtpublikation von Resultaten, die der eigenen Position widersprechen, lassen sich fast alle postulierten Zusammenhänge je nach Interesse der Forscher bestätigen oder falsifizieren.
Wider den Formalismus
Die Ökonomie kann ihre gegenwärtige Dekadenz nur überwinden, wenn Relevanz wieder mehr zählt als formale Brillanz. Solange man aber sämtliche ökonomischen Vorgänge in das Prokrustesbett von mathematisch beschreibbaren, allgemeinen Gleichgewichtsmodellen hineinzwängen muss, um in angesehenen Fachzeitschriften publizieren zu können, wird keine Besserung eintreten. Denn diese Modelle funktionieren nur für fiktive Idealwelten, in denen weder Geld noch Zeit eine echte Rolle spielen und wo Menschen sich auf Nutzenfunktionen reduzieren lassen, die mit ihrem tatsächlichen Verhalten nichts zu tun haben. (Tagesanzeiger.ch/Newsnet)