"Ein grosser Geist strebt nach Erkenntnis; ein kleiner Geist nach Praxisrelevanz."

© WOZ Nr. 49/2010 vom 09.12.2010

Je mehr Wettbewerb, umso besser, haben die Neoliberalen jahrelang erfolgreich verkündet. Ökonomieprofessor Mathias Binswanger zeigt, dass so masslos Leerläufe produziert werden.

Das Interview ist auch auf der Website WOZ erhältlich.

WOZ: Mathias Binswanger, Sie kritisieren in Ihrem Buch «Sinnlose Wettbewerbe» unter anderem den Wissenschaftsbetrieb. Sind Sie selbst Opfer von unsinnigen Wettbewerben?

Mathias Binswanger: Der Begriff «Opfer» ist übertrieben, aber ich habe den Wettbewerb zu spüren bekommen.

Wie?
Um in der Wissenschaft Karriere zu machen, muss man heute auf Teufel komm raus Artikel publizieren, die dann häufig weder einen selbst noch sonst jemanden interessieren. Später merkte ich, dass es solche Phänomene auch in anderen Bereichen gibt.

Welches Phänomen meinen Sie?
Heute stehen alle Leute, die sich ausserhalb des Markts bewegen – also zum Beispiel Lehrer, Ärzte oder Wissenschaftler – unter dem Generalverdacht der Leistungsverweigerung: Sie leisten nicht genügend, solange man sie nicht mit Zuckerbrot und Peitsche antreibt. Also inszeniert man Wettbewerb, wo es keinen Markt gibt. In der Wissenschaft läuft dies zum Beispiel über Publikationen.

Die, die viel publizieren, gelten als die Besten. Aber sind sie das auch?
Eben nicht. Man möchte zwar hohe wissenschaftliche Qualität erzielen. Qualität kann man aber nicht messen, also nimmt man messbare Indikatoren – wie die Zahl der Publikationen. Zwangsläufig richten sich alle nach dem, was gemessen wird. Deshalb wird heute viel mehr publiziert als früher, nur werden diese Publikationen zum quantitativen Unsinn. Wissenschaftler beginnen etwa, ihre Erkenntnisse scheibchenweise zu veröffentlichen, damit sie es auf möglichst viele Publikationen bringen.

Machen alle klaglos mit, weil sie hoffen, eine Professur zu ergattern?
Wer eine Professur möchte, kann sich dem kaum entziehen.
Und wenn man das Ganze kritisiert, riskiert man, als Versager zu gelten – man war halt nicht gut genug, um im Wettbewerb zu bestehen.

Haben Sie brav unsinnige Artikel publiziert?
Am Anfang habe ich auch mitgemacht. Heute publiziere ich aber nichts mehr, was mich nicht interessiert. Als Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten muss ich das zum Glück auch nicht tun.

Wie wurden Sie dort Professor?
Die Stelle war ausgeschrieben, ich habe mich beworben und die Stelle bekommen.

In Ihrem Buch geht es oft um intrinsische Motivation. Ein furchtbarer Begriff für etwas Schönes: Leute tun etwas, weil sie es gerne tun, und nicht des Geldes wegen. Sie lehren an einer Fachhochschule – weil Sie es gerne tun oder weil Sie nichts Besseres gefunden haben?
(Lacht.) Grundsätzlich machen wir ja heute fast dasselbe wie die Universitäten, auch wir betreiben Forschung. Ich geniesse an der Fachhochschule viel Freiheit und schätze das sehr – auch sehe ich, dass ich dort Kollegen und Kolleginnen habe, die ebenfalls mit Leidenschaft lehren und forschen.

Die Schulen für Gestaltung sind ja inzwischen in die Fachhochschulen integriert. Angehende Grafiker und Künstlerinnen müssen Forschung betreiben. Ist das nicht ein Blödsinn?
Da wären wir wieder beim Thema sinnlose Wettbewerbe: Verglichen mit anderen Ländern gibt es in der Schweiz relativ wenig Akademiker und Akademikerinnen. Die Schweiz soll in Zukunft im internationalen Vergleich besser dastehen, deshalb werden nun akademische Lehrgänge kreiert, auch in Bereichen, wo es überhaupt nicht passt. Angefangen bei den Pflegeberufen bis zu den Leuten, die Gestaltung lernen möchten. Sie alle müssen Bachelor- und Masterarbeiten schreiben, was bei diesen Berufen oft absurd ist; aber die Akademikerquote der Schweiz steigt dadurch. Das führt zu sinnlos verakademisierten Ausbildungen, aber nicht zu besser ausgebildeten Leuten.

Das Pflegepersonal profitiert doch, wenn es dank des Mastertitels eine höhere Reputation geniesst ...
Das ist Symptombekämpfung. Wieso hat man das Pflegepersonal überhaupt je abgewertet? Über Jahrzehnte haben wir vermittelt bekommen, man brauche eine möglichst hohe Ausbildung. Viele Berufe lernt man besser in der Praxis. Das ist bekannt, trotzdem macht man jetzt genau das Gegenteil.

Wie schafft man es, Handwerksberufen wieder einen höheren Status zu verleihen?
Im Moment passiert genau das Umgekehrte: Diese Berufe leiden unter einem Imageproblem. Jeder, der irgendwie die Möglichkeit hat, studiert heute. Handwerkliche Lehren machen nur noch die, die kein Studium schaffen, da geht die Qualität in den Handwerksberufen deutlich zurück. Man muss die Berufslehren wieder aufwerten, weil das duale Bildungssystem ein bewährtes und ausgezeichnetes System darstellt. Eine Berufslehre sollte nicht weniger wert sein als ein Studium. Ich sage das als Professor einer Fachhochschule! Es war einer der grossen Vorteile der Schweiz, dass sie sich der ganzen Akademisierung in der Vergangenheit weitgehend entzogen hat.

Wie hat die Fachhochschule auf Ihr Buch reagiert?
Offiziell gab es keine Reaktion, denn die Freiheit von Lehre und Forschung gilt nach wie vor. Nicht wenige Kollegen haben mir aber ihre Zustimmung zu den im Buch vertretenen Thesen signalisiert.

Sie sprechen von inszenierten Wettbewerben. Wie sind die überhaupt entstanden?
Sie entstanden vor dem Hintergrund von simplen Botschaften, welche neoliberale Ökonomen wie Milton Friedman verbreitet haben: Markt ist gut, und Staat ist schlecht. Am Anfang hatten die Friedman-Anhänger wie die Regierung Thatcher zu Beginn der achtziger Jahre die Idee, man könne überall Markt einführen, zum Beispiel auch in der Forschung. Doch es zeigte sich bald, dass die Grundlagenforschung auf diese Weise verschwindet. Also hiess es danach: Wenn schon kein Markt, dann kann man doch wenigstens Wettbewerb einführen, um damit auch ohne Markt Effizienz herzuzaubern.
Man hat nicht gemerkt, dass das eigentlich ein Rückfall in die Planwirtschaft ist. Schon Lenin hat Anfang der zwanziger Jahre gesagt: Jetzt, wo wir die Revolution haben, müssen wir anfangen, den Wettbewerb einzuführen. Damals war Markt aus ideologischen Gründen nicht möglich, aber trotzdem wollte man Effizienz – und ist kläglich gescheitert.

Kein Wettbewerb ohne messbare Leistung. Nur, wie misst man zum Beispiel die Leistung eines Lehrers?
Das ist genau das Problem, diese Messbarkeitsillusion. Wenn jemand Autoscheiben einbauen muss, lässt sich messen, wie viel er in einer Stunde schafft. Bei kreativen Leistungen funktioniert das nicht mehr. Man kann die Leute nicht mit Zuckerbrot und Peitsche zur Kreativität zwingen. Dadurch wird auch die intrinsische Motivation verdrängt: Die Leute, die die Arbeit eigentlich gerne machen, sind häufig die, die nach den messbaren Kriterien gar nicht so gut abschneiden – denen löscht es dann auch am schnellsten ab, und sie kündigen oder werden vertrieben. In der Medizin, der Wissenschaft und der Bildung ist man aber genau auf diese Leute angewiesen. Wer es nur fürs Geld macht, ist nicht der ideale Lehrer, Wissenschaftler oder Arzt.

Verführen Leistungslöhne nicht grundsätzlich zum Lügen? Man darf ja nie eingestehen, dass man einen Fehler gemacht hat.
Tatsächlich sind mit Leistungslöhnen die Anreize so gesetzt, dass es besser ist, wenn man lügt. Diese Kultur entsteht daraus, immer alle beurteilen zu müssen und ständig alles zu evaluieren. Man kann nicht jemanden einfach in Ruhe arbeiten lassen. Der Evaluationswahn ist unglaublich: Jeder muss immer wissen, wo er grad im Vergleich zu den anderen steht. Das ist aber Gift für die Kreativität.

Wie kommt man da wieder raus?
Man muss sich grundsätzlich von der Idee verabschieden, dass sich Qualität messen lässt. Zudem sollte man nicht alle als potenzielle Drückeberger und Faulenzer behandeln. Die sogenannte Qualitätssicherung löst oft eine riesige Bürokratie aus, bringt aber nichts. Man belästigt alle mit Kontrollinstrumenten, die eigentlich nur für die fünf Prozent gedacht sind, die nicht korrekt arbeiten. Mit den wenigen, die immer wieder auffallen und für Reklamationen sorgen, soll man sich beschäftigen. Doch die überwiegende Mehrheit, die ihre Arbeit gut macht, die sollte man nicht ständig mit Massnahmen behelligen, die ihnen die Freude an der Arbeit verderben – und das dann als Qualitätskontrolle ausgeben.

In Ihrem Buch sagen Sie: «Belohnungen sind Feinde der Neugier.» Sind Belohnungen schädlich?
Es gibt ein schönes Beispiel: Wenn man den Kindern Aufgaben gibt und sie frei wählen lässt, wählen sie die schwierigen Aufgaben. Sobald man ihnen aber eine Belohnung in Aussicht stellt, wählen sie die leichten Aufgaben, weil sie die Belohnung bekommen wollen. Es gibt ja schon Ideen, man müsse Schüler, die gut abschneiden, für ihre gute Leistung bezahlen. Auch beim Lernen will man für immer mehr künstlichen Wettbewerb sorgen – da hat man sich ideologisch völlig verrannt.