"Ein grosser Geist strebt nach Erkenntnis; ein kleiner Geist nach Praxisrelevanz."

© BILANZ 17. 9. 2015

Für die Schweiz ist der Begriff Bruttoinlandprodukt irreführend. Denn produziert wird hierzulande nicht mehr viel – dafür umso mehr organisiert.

Vor Kurzem erreichte uns die Nachricht, dass der Thurgauer Bauausrüster Arbonia-Forster (AFG) weitere Stellen von der Schweiz ins Ausland verlagern möchte. Rund 320 Arbeitsplätze werden auf diese Weise aus der Schweiz verschwinden. Doch solche Verlagerungen betreffen nicht nur die traditionelle Fabrikarbeit. Am 10. August konnten wir in der «NZZ» lesen, dass Credit Suisse und UBS Bürostellen nach Polen und Indien verlagern und LafargeHolcim Bürostellen in die Slowakei verlegt.

Diese Entwicklungen sind symptomatisch für einen Trend, der schon seit Jahrzehnten andauert und sich jetzt aufgrund des starken Schweizer Frankens nochmals akzentuiert. Für traditionelle Arbeit in der Fabrik oder im Büro ist die Schweiz mittlerweile ein zu teures Pflaster geworden. Vor allem hohe Löhne machen die Schweiz als Pro​duktionsstandort unattraktiv.

Gemäss Informationen von AFG kostet ein ­Angestellter im Werk in Altstätten in der Schweiz 90'000 Franken pro Jahr. Schon in Thüringen kostet er nur ein Drittel davon. Deshalb werden «produktive» ­Tätigkeiten in Länder mit geringerem Lohnniveau verlagert, wo bei praktisch gleicher Produktivität und Qualität wesentlich billiger produziert werden kann. Das gilt auch für Produkte, die wir nach wie vor mit der Schweiz ­assoziieren. Die meisten Komponenten von Schweizer Maschinen, Präzisions­instrumenten oder Medikamenten werden ebenfalls im Ausland produziert und dann als Zwischenprodukte in die Schweiz importiert.

Hierzulande wird vor allem organisiert

Diese Produktionsverlagerungen ins Ausland haben zur Folge, dass die Wertschöpfung in der Schweizer Wirtschaft immer weniger mit Produktion zu tun hat. Deshalb ist der Begriff Brut​toinlandprodukt mittlerweile irreführend. In Wirklichkeit müsste man von Bruttoinlandorganisation sprechen, denn heute wird hierzulande vor allem organisiert, nicht mehr produziert. Und je weniger wir produzieren, umso besser scheint die Wirtschaft zu laufen. Die Schweiz hat trotz all der Verlagerungen produktiver Tätigkeiten ins Ausland kaum Arbeits­losigkeit, und die Wirtschaft wächst schneller als in anderen europäischen Ländern.

Ein hoch entwickeltes Land wie die Schweiz ist heutzutage nicht mehr wirtschaftlich erfolgreich, weil es begehrte Produkte und Dienstleistungen produziert, sondern weil es diese erfolgreich entwickelt, organisiert und vermarktet. All diese Tätigkeiten sorgen für wesentlich mehr Wertschöpfung als die Produktion selbst. Diese findet dank des technischen Fortschritts mit immer weniger Arbeit und dank der Verlagerung in ­Billiglohnländer mit immer geringer ­bezahlter Arbeit statt.

Doch die heutige Wertschöpfung in der Schweiz hängt nicht nur an Entwicklung, Organisation und Vermarktung von anderswo produzierten Produkten und Dienstleistungen. Noch mehr Arbeitsplätze werden in der Schweiz mittlerweile in der öffentlichen Verwaltung, im Bildungswesen oder im Gesundheits­wesen geschaffen. Dabei geht es um ­Tätigkeiten, die der Organisation, Entwicklung und Erhaltung der Gesellschaft als Ganzes dienen. Wer nur noch vom Organisieren lebt, muss sich auch selbst immer mehr organisieren.