"Analyse ist die Zwangsneurose der modernen Gesellschaft."

©  BILANZ 01/13 20.01.2013

Wir Schweizer werden zwar immer reicher, aber nicht glücklicher. Weil die Unterschiede zwischen oben und unten nicht kleiner werden.

 

Kurz vor Jahresende versorgte uns das Bundesamt für Statistik mit den neuesten Zahlen zu Einkommen und Lebenszufriedenheit der Menschen in der Schweiz. Dabei zeigte sich einmal mehr, dass sich beim Vergleich verschiedener Einkommensklassen ein deutlicher Zusammenhang feststellen lässt. Bei einer Aufteilung in fünf verschiedene Einkommensklassen (Quintile) bewerten in der untersten Einkommensklasse, wo das verfügbare Einkommen geringer als 32 592 Franken ist, 67,2 Prozent ihre Lebenszufriedenheit mit Werten zwischen 8 und 10 auf einer Skala von 1 bis 10. In der höchsten Einkommensklasse mit einem verfügbaren Einkommen von über 71 617 Franken sind es hingegen 84,1 Prozent. Der Wert geht von Einkommensklasse zu Einkommensklasse kontinuierlich nach oben. Führt höheres Einkommen also dazu, dass die Zufriedenheit der Menschen immer grösser wird?

Diese Fragestellung hat inzwischen eine 40-jährige Geschichte, die mit einem Artikel des amerikanischen Ökonomen Richard Easterlin von der University of Southern California im Jahre 1973 begann. Das wichtigste Resultat aus Easterlins jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Thema Zufriedenheit ist unter dem Begriff Easterlin-Paradox bekannt. Dieses besagt, dass zwar in einem Land zu einem bestimmten Zeitpunkt die Zufriedenheit der einzelnen Menschen tendenziell umso grösser ist, je mehr Einkommen sie haben, dass aber die durchschnittliche Zufriedenheit der Menschen in entwickelten Ländern längerfristig mit dem Wirtschaftswachstum nicht mehr zunimmt. Mit andern Worten: Die Reichen sind ­zufriedener als die Armen, aber insgesamt tritt die Gesellschaft trotz Wachstum mit ihrer Zufriedenheit an Ort und Stelle. Dieses Paradox war auch der Ausgangspunkt meines im Jahre 2006 erschienenen Buches «Die Tretmühlen des Glücks», das verschiedene Erklärungen für diesen empi­rischen Befund liefert.

Auf den ersten Blick erscheint das Easterlin-Paradox höchst widersprüchlich. Einerseits stagniert die durchschnittliche Lebenszufriedenheit der gesamten Bevölkerung bei steigenden Einkommen. Doch andererseits sind die Reichen zufriedener als die Armen. Dieser Widerspruch lässt sich aber auflösen, da es in Wirklichkeit um zwei unterschiedliche Sachverhalte geht. Was für den Einzelnen gut ist, muss noch lange nicht gut für alle sein. Wenn der Einzelne mit steigendem Einkommen zufriedener wird, dann heisst das noch lange nicht, dass die Gesamtheit der Bevölkerung bei steigendem Einkommen ebenfalls zufriedener wird. Das ist der Trugschluss der Verallgemeinerung, vor dem man sich auch in diesem Zusammenhang hüten muss.

Die Zufriedenheit der Menschen hängt nämlich entscheidend von ihrem relativen Einkommen im Vergleich zu andern ab. Dieser Tatsache wird vom Bundesamt für Statistik indirekt Rechnung getragen, indem Armut relativ definiert wird als Einkommen, das 50 Prozent (manchmal auch 60 Prozent) unter dem Medianeinkommen liegt. Diese relative Armut verschwindet somit nie, sondern führt dazu, dass sich absolut immer reichere Menschen relativ nach wie vor arm fühlen. Die Menschen orientieren sich in ihrer Selbsteinschätzung stets an dem Wohlstand, der jeweils in einem Land von den besser Verdienenden vorgelebt wird. Und wenn man dabei nicht ­mithalten kann und sich einschränken muss, ist dies auch der Lebens­zufriedenheit abträglich.