"Ein grosser Geist strebt nach Erkenntnis; ein kleiner Geist nach Praxisrelevanz."

© BILANZ 14/13 05.07.2013

Pendeln verursacht Verkehrschaos – und frustriert die Menschen. Dabei wäre längst ein räumlich und zeitlich flexibles Arbeiten möglich.

Vor kurzem veröffentlichte ­Zahlen des Bundesamtes für Statistik zu Mobilität und Verkehr zeigen, dass die in der Schweiz ­durchschnittlich für einen Arbeitsweg aufgewendete Zeit von 23 Minuten im Jahr 2000 auf 30 Minuten im Jahr 2011 zugenommen hat. Ebenso wie die ­Menschen in andern ­Ländern verwenden auch wir immer mehr Zeit fürs tägliche Pendeln.

Das wäre nun nicht weiter schlimm, wenn ­Pendeln Spass machen würde. Doch das ist nicht der Fall. Untersuchungen zeigen, dass die Lebens­­zufriedenheit der Menschen mit der Zunahme der für das Pendeln ­aufgewendeten Zeit abnimmt. Das liegt auf der Hand, wenn diese Zeit mehrheitlich in überfüllten Zügen, U-Bahnen oder Bussen verbracht wird. Doch eine gross angelegte Studie von Daniel Kahneman, dem Wirtschafts-Nobelpreisträger 2002, mit 1000 ­texanischen Frauen zeigte, dass das Pendeln zur ­Arbeit am Morgen die mit grossem Abstand unglücklichste Zeit des ganzen Tages ist – selbst wenn man mit dem Auto pendeln kann.

Langes Pendeln macht also wenig froh, egal ob per Auto, Bus oder Bahn. Doch das ist noch nicht alles. Der Pendlerverkehr sorgt zweimal pro Tag für Verkehrsüberlastungen an vielen neuralgischen Punkten, und unsere ganze Verkehrsinfrastruktur muss auf diese Peak Hours ausgerichtet ­werden. Zwar ist «nur» etwa ein Viertel der von einem Menschen in der Schweiz pro Tag zurückgelegten Distanz auf das Pendeln zum Arbeitsplatz und wieder nach Hause zurückzuführen. Aber weil alle Menschen abends und morgens gleichzeitig pendeln, hat der Berufsverkehr besonders ­gravierende Konsequenzen.

Nach wie vor arbeiten wir möglichst alle zur selben Zeit an ­denselben Orten. Also setzt sich von montags bis freitags jeden Morgen eine gewaltige Menschenkarawane in überfüllten Transportmitteln und auf verstopften Strassen in Bewegung, um in städtische Ballungszentren zu gelangen. Und am Abend, nach Ablauf der Arbeitszeit, setzen sich ­wiederum alle diese Menschen gleichzeitig in überfüllte Züge, Busse oder ihr ­eigenes Auto, um schliesslich erschöpft zu Hause anzukommen mit der unan­genehmen Gewissheit, dass sich am nächsten Tag die ganze Prozedur ­wiederholen wird.

Diese Organisation des Arbeitsalltags haben wir aus der Zeit der In­dus­triearbeit übernommen, als tatsächlich alle Arbeiter zur gleichen Zeit in der Fabrik sein mussten, damit die Produktion funktionierte. Die damit ­verbundene tägliche Völkerwanderung ist heutzutage jedoch in vielen ­Fällen zu einer unnötigen Selbstkasteiung geworden. Es ist nicht einzu­sehen, warum sich alle gleichzeitig in bestimmten Gebäuden aufhalten müssen, in denen dann jeder für sich allein den grössten Teil des Tages ­vor seinem Computer verbringt. Doch wir scheinen uns von diesem ­antiquierten ­Modell eines räumlich zentrierten, simultan stattfindenden ­Arbeitsalltags nur schwer wieder lösen zu können. Und dies, obwohl der ganze Fortschritt in der ­Informations- und Computertechnologie in vielen Jobs längst ein ­räumlich und zeitlich flexibles Arbeiten ermöglicht. In diesem technologischen Fortschritt liegt der ­entscheidende Schlüssel zur Reduktion des Pendlerverkehrs und gleich­zeitig zur Schaffung von mehr Lebensqualität.